Department Mathematik
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Nachruf auf Prof. Dr. Detlef Dürr (1951–2021)

29.01.2021

Wir trauern um Detlef Dürr, der am 3.1.2021 im Alter von 69 Jahren unerwartet und viel zu früh verstorben ist. Er war von 1989 bis 2016 Professor am Mathematischen Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München und bis zuletzt sowohl in der Forschung als auch der Lehre aktiv. Er hinterlässt seine Ehefrau Veronika und die beiden Töchter Sarah und Anna. Darüber hinaus werden ihn viele Freundinnen und Freunde, Schülerinnen und Schüler, Kolleginnen und Kollegen und eine internationale wissenschaftliche Gemeinschaft, die er maßgeblich geprägt hat, schmerzlich vermissen.

Detlef Dürr war in vielerlei Hinsicht ein außergewöhnlicher Wissenschaftler und Mensch. Bekannt war er besonders für sein leidenschaftliches Eintreten für die Bohmsche Mechanik, die er als sinnvolle Theorie der Quantenphysik ansah, und gegen die Kopenhagener Deutung, die er als wissenschaftlich unbefriedigend ablehnte. Er prägte den Ausdruck “Bohmsche Mechanik” in Analogie und Abgrenzung zur Newtonschen Mechanik und leistete seit 1992 zusammen mit seinen langjährigen Koautoren und engen Freunden Sheldon Goldstein (Rutgers University, USA) und Nino Zanghì (Universität Genua, Italien) entscheidende Beiträge zum mathematischen und physikalischen Verständnis dieser Theorie und der Quantenphysik insgesamt. Dürr, Goldstein und Zanghì zeigten außerdem, wie sich die Paradoxien der gängigen Sichtweise auf die Quantenphysik in der Bohmschen Mechanik auf natürliche Weise klären lassen. Zugleich war Detlef Dürr keineswegs dogmatisch als Anhänger der Bohmschen Mechanik; er betonte sogar, dass Theorien wie die von Ghirardi-Rimini-Weber, die für den Kollaps der Wellenfunktion eine stochastische Abwandlung der Schrödinger-Gleichung vorschlagen, ebenfalls eine sinnvolle Möglichkeit darstellen, wie die Quantenwelt funktionieren könnte. Er verfasste selbst eine Reihe von Forschungsarbeiten über derartige Kollaps-Theorien, und mit ihren führenden Vertretern GianCarlo Ghirardi und Angelo Bassi verband ihn eine langjährige Freundschaft.

Detlef Dürr wurde am 4.3.1951 in Hänigsen (Niedersachsen) geboren. Er wuchs auf in Helmstedt, Oldenburg und Osnabrück, studierte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und promovierte dort 1978 über wahrscheinlichste Wege von Diffusionsprozessen. Während des Studiums lernte er seine spätere Ehefrau Veronika kennen. Nach der Promotion arbeitete er als Postdoktorand an der Rutgers University mit Joel Lebowitz und an der Ruhr-Universität Bochum sowie an der Universität Bielefeld mit Sergio Albeverio an mathematischen und konzeptuellen Fragen der statistischen Mechanik. In Bochum habilitierte er 1983 mit einer Arbeit zur Herleitung von Diffusionsprozessen als Bahnen eines markierten Teilchens in der deterministischen Bewegung eines Systems von Billardkugeln im Limes vieler Kugeln. In der statistischen Mechanik lag ihm besonders das Ausräumen von Missverständnissen am Herzen. Er vertrat die Boltzmannsche Erklärung des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik und betonte die Bedeutung von Typizität für die Begründung statistischer Gesetze in deterministischen Theorien wie etwa der Bohmschen und der Newtonschen Mechanik.

In München pflegte er von Beginn an besonders mit Herbert Spohn engen wissenschaftlichen und freundschaftlichen Kontakt. Im Jahr 1992 konnte er zusammen mit Goldstein und Zanghì in einer wegweisenden Arbeit zeigen, dass in typischen, durch die Bohmsche Mechanik beschriebenen Universen der quantenmechanische Messformalismus Gültigkeit besitzt. Damit sind die Postulate der Quantenmechanik in der Bohmschen Mechanik Theoreme. Seitdem konzentrierte sich seine Forschung besonders auf die Grundlagen der Quantenmechanik. Er forschte aber unter anderem auch an der klassischen Elektrodynamik nach dem Ansatz von Wheeler und Feynman, an der Elektron-Positron-Paarerzeugung, der Dirac-See-Theorie und der Shape-Space-Dynamik. Seine wissenschaftliche Arbeit war von der Vorstellung geprägt, dass auch bei Grundlagenfragen der Physik dieselben strengen Kriterien wie in anderen Bereichen dieser Wissenschaft angelegt werden müssen und können.

Detlef lag es besonders am Herzen, die nachfolgenden Generationen zu erreichen, ihre Faszination für Wissenschaft zu fördern und sie früh an der wissenschaftlichen Gemeinschaft teilhaben zu lassen. Er hat eine weit überdurchschnittliche Anzahl von Doktorarbeiten und anderen Abschlussarbeiten betreut. Durch seine enthusiastische und den Studierenden zugewandte Art wie auch seinen Fokus auf fundamentale Fragen zog er viele Studierende an und schuf in seiner Arbeitsgruppe am Mathematischen Institut eine ganz besondere Wissenschafts- und Diskussionskultur. Er setzte sich zudem für eine fundierte und bedarfsgerechte Ausbildung der zukünftigen Mathematiklehrerinnen und -lehrer ein, insbesondere in seiner Zeit als Direktor des Mathematischen Instituts. Er hat drei Lehrbücher geschrieben (über Bohmsche Mechanik, über Quantenmechanik und über Wahrscheinlichkeitstheorie), die sich stark von gängigen Lehrbüchern zu denselben Themen unterscheiden. Sie sind geprägt von einer sorgfältigen Aufarbeitung der Grundlagenfragen, die sonst zumeist vernachlässigt werden.

Es war Detlefs Ansicht, dass ein tiefes Verständnis der Physik auch Souveränität im Umgang mit Mathematik und Philosophie einschließt. Dementsprechend suchte und förderte er den interdisziplinären Austausch. So brachte die von ihm am ZIF Bielefeld mit initiierte und organisierte Konferenzreihe „Quantum Theory without Observers“ (1995, 2004, 2013) führende Vertreter dieser Disziplinen zusammen. Über die Jahre organisierte er zahlreiche Sommerschulen und Workshops, und mit dem Philosophen Tim Maudlin aus New York und weiteren Kollegen gründete Detlef vor wenigen Jahren zu diesem Zweck das „John Bell Institute for the Foundations of Physics“.

Obwohl er den wissenschaftlichen Diskurs mit offenem Visier liebte und gerne provokant formulierte, war er auf persönlicher und menschlicher Ebene immer um Ausgleich, Respekt und Verständnis bemüht. Mit seiner herzlichen Art verstand er es, Anhänger verschiedener Lager und Ansätze zu erreichen. Dabei half ihm seine Liebe zur Musik, die er in seiner Jugend mit seinem Bruder fand und gerne als Gitarrist und Sänger mit seinen Mitmenschen teilte. Im Jahr 1974 veröffentlichte Detlef zusammen mit dem Gitarristen Peter Finger eine Schallplatte, und manchmal hielt er auf Konferenzen nicht nur einen Vortrag, sondern gab auch ein Konzert. Nicht selten wurde er bei solchen Konzerten von seinen Töchtern Anna und Sarah begleitet.

Mit Detlef Dürr haben wir einen visionären Wissenschaftler, einen mitreißenden Lehrer und einen guten Freund verloren. Einen, dem der Beruf des Universitätsprofessors noch im eigentlichen Sinne des Wortes Berufung war, die er mit Leib und Seele ausfüllte. Mit ihm geht ein Stück wissenschaftlicher und humaner Kultur. Wir werden ihn schmerzlich vermissen. In tiefer Trauer und Dankbarkeit

Gernot Bauer, Dirk Deckert, Peter Pickl, Stefan Teufel, Roderich Tumulka